„Warum haben so viel mehr zu essen, als sie vertragen können, während andere Hunger leiden müssen?“, fragte die kleine Elena ihren Vater, der gerade erst nach Hause gekommen war, weil er Überstunden hatte leisten müssen, damit sein vorgesetzter auf den Golfplatz gehen konnte. Ein paar Augenblicke lang versuchte er, die Frage zu ignorieren, und schenkte sich ein großes Glas Cognac ein. Die Kleine gab aber keine Ruhe, zog an seinem Hosenbein und rief in einem fort „Sag doch, Papa, sag doch!“, was, wie man sich leicht vorstellen kann, nicht gerade zur Besserung seiner Stimmung beitrug. Entsprechend zynisch fiel seine Antwort aus. „Das, meine Kleine, ist die höchste Vervollkommnung der Kunst der Quälerei, in welcher die Menschen ach so bewandert sind, - das Elend gleich neben dem Überfluss anzusiedeln – den armen Tropf, der nicht einmal das Geld fürs täglich Brot hat, zu zwingen, dem Vorbeirauschen ihrer Luxuslimousinen zu lauschen, auf dem Weg zu irgendeinem Fest oder Empfang, ohne auch nur an ihn zu denken, geschweige denn, ihm das kleinste bisschen Hilfe zukommen zu lassen – die Fleißigen, die Findigen, die Kreativen sind zum Verhungern verdammt, während die Mittelmäßigen wie die Maden im Speck leben – den im Sterben Liegenden im Stich zu lassen, in der Gewissheit, dass nur einige Cent von dem Geld, mit dem die vollgefressenen Superreichen nichts Sinnvolles anzufangen wissen, ihn retten könnten – das zu tun, ist ihr oberstes Ziel, und es wird stets erreicht. Der Hungerleider, durch dessen fadenscheiniges Gewand die Winterstürme fegen und seine Haut wie mit Nadeln stechen – dessen Tränen gefrieren, ehe sie fallen können – dessen Seele so trostlos ist wie die Nacht, unter deren Zelt er sich schlafen legt – dessen erfrorene und verklebte Lippen die Nahrung nicht aufnehmen könnten, nach der der knurrende Magen verlangt – und der, inmitten des Horrors eines obdachlosen Winters, dieses Elend demjenigen vorzieht, das ihn in seiner Behausung, die den Namen Wohnung nicht verdient, erwartet, ohne Nahrung, ohne Strom, wo das Heulen des Sturms beantwortet wird von lauteren Schreien nach Essen, wo er über die geschwächten Körper seiner Lieben steigen muss, die zu Boden gesunken sind, nicht um zu rasten, sondern aus Verzweiflung. Ist so ein Mensch noch immer nicht verzweifelt genug?“
Die kleine Elena zitterte vor Erregung am ganzen Leib und brachte kein Wort hervor. „Nein, er ist es nicht. Lasst seine Schritte, die nicht wissen, wohin sie wandern, ihn vor die Tore der luxuriösen Behausungen der Wohlhabenden führen – lasst ihn fühlen, dass ihn nur ein Zaun von Überfluss und Fröhlichkeit trennt, aber in Wahrheit Welten zwischen ihm und diesem anderen, schöneren Leben liegen – lasst ihn fühlen, dass, während seine Welt nur aus Kälte und Hunger besteht, die da drinnen sich die Augen mit den neuesten technischen Spielereien verderben und in den überheizten Räumen mit Ventilatoren Kühlung verschaffen – lasst ihn fühlen, dass jeder seiner Klagelaute mit einem Lachen oder einem Lied beantwortet wird – und lasst ihn auf der Schwelle der Villa sein Leben aushauchen, während sein letzter bewusster Schmerz durch den Gedanken verschlimmert wird, dass der hundertste Teil der Schlemmereien und Luxusartikel, die da drinnen unbeachtet vor der Schönheiten und gelackten Affen herumstehen, seine Existenz hätte verlängern können, während dieser Überfluss die ihre nur noch vergiftet – lasst ihn verhungern auf der Schwelle eines Luxusrestaurants, während ihr euch auf der Toilette übergebt, weil ihre euch überfressen habt oder glaubt, zu dick zu sein – und dann, dann bewundert mit mir die Erfindungsgabe, die dieses neue Elend hervorgebracht hat! Nicht zufrieden mit Krankheiten und Hunger, mit der Unfruchtbarkeit der Erde, den Wirbelstürmen, den Erdbeben, müssen sie Gesetze und Ehen haben, Präsidenten und Finanzämter, Kriege und Festlichkeiten, und alle Arten von künstlich hervorgerufenem Leid, die man sich nur ausmalen kann.“
Darauf stürzte der Vater seinen Cognac in einem Zug hinunter und ließ seine Tochter stehen, die in Tränen ausbrach und nach der Mutter rief.
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