An einem trübselig grauen Novembernachmittag, der Nebel lag wie schmutzige Watte über der Hauptstadt, musste Michael, gerade 18 geworden und seit wenigen Wochen stolzer Führerscheinbesitzer, den Großvater, der zum Bahnhof chauffieren. Die Stimmung im Auto war nicht die beste. Michael hatte eine Verabredung mit seiner neuesten Flamme, auf deren SMS er sehnlichst wartete, der Großvater hatte beim Mittagessen etwas zu viel vom Rotwein erwischt und schimpfte über alles und jedes. Besonders die allgegenwärtigen Weihnachtsdekorationen erregten seinen Missmut.
„Noch sechs Wochen bis Weihnachten – und alles versinkt schon in dem elendigen Kitsch. Santa Claus und Christbäume wohin man blickt.“
Der alte Mann war areligiös und neigte um kirchliche Feste herum zur Depression. Michael, den die ihm übertragene Aufgabe („Jetzt, wo du ein eigenes Auto hast, kannst du auch einmal etwas für uns tun.“) so überhaupt nicht reizte, wollte sich einen kleinen Spaß erlauben und beschloss, den Großvater ein wenig zu reizen.
„Du, Opa, woran glaubst Du eigentlich?“
Der Angesprochene reagierte zunächst nicht und starrte aus dem Fenster. Michael unternahm einen zweiten Versuch.
„Glaubst du überhaupt an etwas?“
Der alte Mann, dem aufging, dass der Enkel von seiner Fragerei bestimmt nicht so schnell ablassen würde, entgegnete:
„Willst Du mich etwa aufziehen?“
„Nein, nein“, beteuerte der Jüngling mit verschmitztem Lächeln.
„Also, Du willst wirklich wissen woran ich glaube? Du hast gar keine Ahnung, was ich alles glaube und zu glauben in der Lage bin. Ich kann an so gut wie alles glauben, wenn ich nur will. Ich kann an wahre Dinge glauben und an unwahre und an solche, von denen niemand so genau weiß, ob sie denn nun wahr oder unwahr sind. Ich kann an den Osterhasen glauben und an Mickey Mouse und an Greta Garbo und an die Beatles und daran, dass Elvis noch lebt. Pass gut auf – ich glaube, dass man die Menschen bessern kann, dass Wissen unendlich ist, dass die Welt von einem geheimen Bankenkartell beherrscht und regelmäßig von Außerirdischen besucht wird, von freundlichen, die wie aufrecht gehende graue Echsen aussehen, und gefährlichen, die Haustiere verstümmeln und unsere Frauen und unser Wasser stehlen. Ich glaube, dass die Zukunft scheiße ist, und ich glaube, dass die Zukunft großartig wird, und ich glaube, dass uns die Natur eines Tages furchtbar in den Arsch treten wird. Ich glaube, dass alle Männer zu groß gewordene Knaben und alle Frauen im Innersten kleine, unsichere Mädchen sind. Ich glaube, dass alle Politiker gierige und rückgratlose Gauner sind, und dennoch glaube ich, dass es keine vernünftige Alternative zu ihnen gibt. Ich glaube, dass die Holland demnächst im Meer und China irgendwann in einem Chaos aus Giftmüll und Wahnsinn versinken wird. Ich glaube, dass antibakterielle Reinigungsmittel nach und nach unsere Abwehrkräfte schwächen und die gesamte Menschheit früher oder später vom hundsgewöhnlichen Schnupfen dahingerafft wird. Ich glaube, dass der Marquis de Sade der größte Schriftsteller aller Zeiten ist, dass es sich bei Jade um getrocknetes Drachensperma handelt und dass ich in einem früheren Leben ein einarmiger ägyptischer Priester war. Ich glaube, dass das Schicksal der Menschheit in den Sternen steht. Ich glaube, dass Süßigkeiten und Eiscreme in meiner Jugend wirklich besser schmeckten, dass es für Hummeln aerodynamisch unmöglich ist zu fliegen, dass licht sowohl Welle als auch Teilchen ist, dass sich irgendwo tatsächlich eine Katze in einer Schachtel haust und gleichzeitig lebt und tot ist (obwohl sie, wenn man nicht ab und zu die Schachtel öffnet, um sie zu füttern, bald nur auf zwei unterschiedliche Arten tot sein wird), und dass es im Weltall Sterne gibt, die Milliarden Jahre älter sind als das Weltall selbst. Ich glaube an einen persönlichen Gott, der alles beobachtet, was ich tue, und sich um mich sorgt. Ich glaube an einen unpersönlichen Gott, der das Weltall in Bewegung gesetzt hat und dann verschwunden ist, um sich mit seinen Freunden zu treffen, und nicht einmal weiß, dass ich existiere. Ich glaube an ein leeres und gottloses Universum von ursächlichem Chaos, Hintergrundstrahlung und purem Zufall. Ich glaube, dass jeder, der sagt, Sex sei überbewertet, noch nie guten Sex hatte. Ich glaube, dass jeder, der behauptet, die großen Zusammenhänge zu verstehen, auch in den kleinen Dingen des Alltags lügt. Ich glaube an absolute Ehrlichkeit und vernünftige soziale Lügen. Ich glaube, dass Frauen das Recht auf Abtreibung haben sollen und daran, dass jedes Ungeborene ein Recht auf Leben hat. Ich glaube, dass nichts gegen Strafen einzuwenden ist, sofern das Rechtssystem einwandfrei funktioniert, und dass nur ein Narr auf das Funktionieren des Rechtssystems vertrauen würde. Ich glaube, dass das Leben ein Spiel ist, dass das Leben ein grausamer Scherz ist, dass es etwas ist, das einfach passiert, während man am Leben ist, und man sich deshalb ruhig entspannen und es genießen sollte. Das alles glaube ich – oder könnte ich zumindest glauben. Jetzt brauche ich aber etwas zu trinken.“
Michael war sprachlos und hielt vor der nächsten Gaststätte an.
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